23. Oktober 2023

Was künstliche Intelligenz im Rechtsmarkt und die Frauenfussball-WM gemeinsam haben

Der digitale Wandel im Rechtsmarkt und Frauenfussball verbindet eines: Beide existieren schon ziemlich lange, haben bisher aber keine breite Aufmerksamkeit ausgelöst. Das hat sich jedoch in den letzten Monaten geändert: Mit #ChatGPT im November 2022 und der #Frauenfussball-Weltmeisterschaft im Sommer 2023 in Australien/Neuseeland könnte ein Wendepunkt erreicht sein, von dem es kein Zurück mehr gibt.

Die Frauenfussball-WM 2023 hat diesen Sport schlagartig auf ein neues Level gehoben. Dies könnte das Schlüsselereignis für einen Entwicklungssprung gewesen sein. Frauenfussball hat weltweit eine bisher nie gekannte Akzeptanz und eine Welle der Begeisterung ausgelöst. Nach all den Jahren, in denen der Frauenfussball auf dem Spielfeld nur zweitrangig war, scheint er nun endgültig aus dem Schatten des Männerfussballs herausgetreten zu sein und eine eigene Daseinsberechtigung zu beanspruchen. Welche Faktoren genau diesen entscheidenden Funken auslösten, bleibt noch zu analysieren.

Und im Rechtsmarkt? In den letzten Jahren wurde das Thema #LegalTech mit unterschiedlicher Intensität aufgegriffen. Es entstanden Konferenzen, eine Art Orchideenfach für Begeisterte, eine enthusiastische Start-up Szene und gewisse Anwälte fühlten sich gar als Softwareentwickler berufen. So richtig aber scheint Legal Tech nicht wirklich durchgestartet zu sein. Eine Veränderungswelle im grossen Stil scheint der digitale Wandel bisher noch nicht ausgelöst zu haben, und von einer #disruptiven Wirkung ist man noch weit entfernt. Dies könnte sich jedoch mit der Einführung von ChatGPT geändert haben. Damit ist ein Geist aus der Flasche entwichen, der in Windeseile und gleichzeitig alle Branchen und Berufsgruppen in allen Ländern schlagartig ins Rampenlicht gezogen hat – auch die Rechtsdienstleister. Es gibt nun eine neue Dynamik, und es werden vertiefte Diskussionen in der Breite geführt. So prognostiziert zum Beispiel @Goldman Sachs, dass mit künstlicher Intelligenz (KI) 44% der juristischen Arbeit automatisiert werden könnte (hier). KI könnte ein #Game Changer im Rechtsmarkt sein.

Es lohnt sich in diesem Zusammenhang ein Blick auf den Begriff #Emergenz zu werfen. Der Duden spricht von Emergenz einerseits beim «Auftreten neuer, nicht voraussagbarer Qualitäten beim Zusammenwirken mehrerer Faktoren». Man kann nun darüber rätseln, warum gerade diese Frauenfussball-WM bzw. erst ChatGPT diesen plötzlichen Schub an Aufmerksamkeit durch die Massen erfahren hat, obwohl beide schon vorher bestanden. Fakt ist, dass sich die Männer im Fussball neu mit mehr #Konkurrenz anfreunden müssen, weil bald doppelt so viele Teams um die gleichen Sponsoren buhlen werden. Ebenso wird sich dank KI die Qualität der Rechtsdienstleistung verbessern. Das Wort Emergenz hat gemäss Duden aber noch eine weitere Bedeutung, die insbesondere im Zusammenhang mit KI mehr Aufmerksamkeit verdient: Der Begriff bezeichnet auch den Umstand, «wonach höhere Seinsstufen durch neu auftauchende Qualitäten aus niederen entstehen». Das wird man der KI spätestens dann attestieren, wenn sie ein Bewusstsein entwickelt, d.h. einen Seinszustand erreicht, der bisher nur Menschen vorbehalten war – (#Singularität). Dieses Stadium ist heute noch Zukunftsmusik. Beiden Definitionen gemeinsam ist jedoch, dass sie nicht nur zu einem leicht optimierten Ergebnis führen, sondern das Potenzial zur echten #Transformation besitzen.

Bereits im April 2021, also noch vor dem grossen Hype um ChatGPT, haben das Europäische Parlament und der Rat einen Vorschlag für eine Verordnung zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz erlassen, d.h. das Gesetz ist noch nicht beschlossene Sache. Je nach Interessengruppe wird diese neue #Regulierung Freud oder Leid auslösen. Unternehmen und damit auch ihre Rechtsabteilungen sind bekanntlich nicht sonderlich erfreut über mehr Regulierung, da diese regelmässig zu kostenintensiven Änderungen und Anpassungen im Tagesgeschäft zwingt. Externe Rechtsberater hingegen freuen sich darüber, weil sie neuen #Beratungsbedarf schaffen und damit für zusätzlichen #Umsatz und #Wachstum sorgen.

Aber das ist zu kurz gedacht. KI erlaubt eine bisher ungeahnte #Effizienzsteigerung, #Qualitätsverbesserung und schnellere #Performance. Kunden werden von ihren Lieferanten vermehrt die Nutzung von technologischen Lösungen verlangen, weil die Unternehmen selbst KI ohnehin in ihre Wertschöpfungskette integrieren müssen (#Kundenorientierung). Mit dem heutigen #Geschäftsmodell von #Grosskanzleien wird dies primär dazu führen, dass weniger Zeitaufwand pro Mandat generiert werden kann (#Stundenhonorar). Die Kanzleien werden auch weniger junge Associates im bisherigen Stil beschäftigen, die ihre Lehrjahre in Datenräumen abverdienen und damit auch weniger «Ausbildungsstunden» abrechnen können, d.h. sie könnten für Anwaltskanzleien schliesslich zu teuer werden (#Leverage). Die gute Nachricht ist jedoch, dass der Bericht von Goldman Sachs auch bestätigt, dass gerade in der Beratungsindustrie viele #neue Jobs entstehen werden. Welche das sein werden, wird sich noch zeigen.

Die Kanzleien werden sich an die neuen Rahmenbedingungen anpassen müssen, da ihre Mandanten bereits KI einsetzen und dies auch von ihren Geschäftspartnern fordern werden. Sie werden sich die Frage nach der #Positionierung stellen (#Strategieentwicklung) und ihr #Erlösmodell überdenken müssen (#Business Model). Die Associates werden – unabhängig von den laufenden Diskussionen rund um #New Work, #Homeoffice und #Work-Life-Balance – anders entwickelt und geführt werden müssen (#Leadership). Sie werden von ihren Kunden lernen, was sie mit KI machen können und entsprechend nachziehen müssen. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum nicht auch #Rechtsabteilungen die nächste Stufe der technischen Evolution mitmachen müssen, allenfalls teilweise mit leicht angepassten Vorzeichen. Sie werden von ihren internen Kunden den #Druck ohnehin erhalten, sich weiterzuentwickeln, und sie werden diesen natürlich ungefiltert (auch) an ihre externen Lieferanten weiterreichen.

KI stellt eine #globale Herausforderung dar, die an keiner Branche ungeschehen vorbeiziehen wird. Zu argumentieren, dass die KI (noch) nicht gut genug ist, ist der falsche Ansatz, weil dies graduell passieren wird, so wie sich Autos, Laptops und Mobiltelefone laufend weiterentwickeln. Es ist auch müssig, darüber zu debattieren, ob in Zukunft digitalisierte Roboter den humanen Anwalt ersetzen werden. Es geht also nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Miteinander. Anpassungsdruck ist vielmehr von anderswo zu erwarten, das heisst von diejenigen Jurist:innen, die die neuen Technologien wie z.B. KI in ihre Arbeitswelt einbauen. Die wirkliche Konkurrenz kommt also nicht von der Technologie selbst, sondern von den anderen Rechtsdienstleistern, die die Technologie nutzenstiftend in ihre Arbeit integrieren.

Wenn Sie weitere Impulse suchen, hier finden Sie meine weiteren Posts zu verschiedenen Themen zum Rechtsmarkt.

Über die Autorin / den Autor
Prof. Dr. Bruno Mascello Akademischer Direktor Law & Management der Executive School of Management, Technology and Law der Universität von St.Gallen, Direktor des Executive Weiterbildungsprogramms für Juristen “Management for the Legal Profession (MLP-HSG)”, Rechtsanwalt, Dozent und Autor zu verschiedenen Fragen an der Schnittstelle von Recht und Management.